Pflege Pflegebedürftigkeit: Wenn sich Rollen und Beziehungen ändern
Ein Pflegefall kann die gewohnte Rollenverteilung verändern. Unterschiedliche Erwartungen führen in dieser Situation mitunter zu Streit und Frustration. Verschiedene Strategien können dabei helfen, gut in eine neue Rolle hineinzufinden.
Auf einen Blick
- Pflegebedürftigkeit führt fast immer zu veränderten Rollen in Beziehungen.
- Veränderungen durch neue Rollen können für alle Beteiligten emotional aufwühlend sein.
- Veränderte Rollen können mit positiven und negativen Folgen verbunden sein.
- Um in eine neue Rolle hineinzufinden, sollte man über persönliche Erwartungen sprechen.
- Verschiedene Strategien können den Umgang mit veränderten Rollen erleichtern.
Wie können sich Rollen ändern, wenn eine Person pflegebedürftig wird?
Wird eine Person pflegebedürftig, kann das für alle Beteiligten ein großer Einschnitt sein. Den wenigsten Menschen fällt es leicht, auf Pflege und Hilfe aus dem Familien- und Freundeskreis angewiesen zu sein.
Versorgung und Pflege zu organisieren, ist für sich genommen schon herausfordernd. Zusätzlich kann man aber auch mit starken Gefühlen konfrontiert sein, wenn sich Beziehungen durch veränderte Rollen grundlegend ändern.
Was ist überhaupt eine „Rolle“?
Eine Person kann verschiedene Funktionen und Aufgaben übernehmen, zum Beispiel im Rahmen ihres Berufs oder ihrer Familie. Innerhalb einer Gesellschaft herrschen bestimmte Erwartungen, wie diese Funktionen jeweils erfüllt werden sollen. Die Summe der gesellschaftlichen Erwartungen in Bezug auf eine bestimmte Funktion bezeichnet man als „Rolle“.
Wenn sich die Rollenverteilung durch Pflegebedarf ändert, müssen alle Beteiligten in ihre veränderten Rollen hineinwachsen. Um diese Entwicklung aktiv gestalten zu können, lohnt sich ein Blick auf die verschiedenen Rollen und Bedürfnisse aller Beteiligten.
Wie können neue Rollen aussehen?
Oft übernehmen die erwachsenen Kinder die Eltern-Aufgabe des „Kümmerns“, während die Eltern selbst zunehmend Zuspruch und Hilfe benötigen. Das bedeutet aber nicht, dass man als Kind die Elternrolle vollständig übernimmt. Pflegende Töchter und Söhne sehnen sich wiederum möglicherweise nach Zuwendung und Anerkennung. Solche Erwartungen kann eine pflegebedürftige Person unter Umständen aber gar nicht erfüllen.
Interessant zu wissen: Man bezeichnet es als „filiale Reife“, wenn erwachsene Kinder in der Beziehung zu einem Elternteil zu einer neuen Rolle finden.
Sind mit einer neuen Rolle unterschiedliche Erwartungen verknüpft, können darüber Gefühle wie Trauer, Scham, Verzweiflung und Wut entstehen. Diese Gefühle sind eine normale Reaktion auf eine herausfordernde Situation. Verschiedene Strategien helfen dabei, mit der neuen Situation umzugehen. Es ist zum Beispiel hilfreich, sich der eigenen Vorstellungen und Erwartungen bewusst zu werden und sich regelmäßig mit dem Gegenüber darüber auszutauschen. So lassen sich Konflikte leichter lösen oder von vornherein vermeiden. Außerdem ist es wichtig zu wissen, wann und wo man sich Hilfe holen kann.
Welche negativen Folgen können mit veränderten Rollen verbunden sein?
Eine belastete Beziehung kann das Wohlbefinden aller Beteiligten beeinträchtigen. Um mit den verschiedenen Belastungen umgehen zu können, muss man sich der möglichen Auswirkungen der veränderten Rollen bewusst werden.
Rollenwechsel in der Paarbeziehung
In einer Partnerschaft besteht meist eine eingespielte Rollenverteilung. Diese Rollenverteilung kann auch Anteile haben, die einem nicht bewusst sind und mit denen man sich darum bisher nicht auseinandergesetzt hat. Gesundheitliche Änderungen können etwa dazu führen, dass man bestimmte Aufgaben nicht mehr übernehmen kann, für die man sich zuständig fühlt. Es kann schwerfallen, Aufgaben und Verantwortung abzugeben. Körperliche Einschränkungen und der Verlust der Selbstbestimmung können zudem das Sexualleben beeinträchtigen. Um als Paar in veränderte Rollen hineinzufinden, ist es besonders wichtig, offen über die damit verbundenen Erwartungen, Gefühle und Sorgen zu sprechen.
Rollenmissbrauch
Die Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen kann dazu verleiten, übermäßige Kontrolle auszuüben. Das kann einerseits dazu führen, dass man seine Macht als Bestimmer missbraucht, um den eigenen Willen durchzusetzen. Andererseits kann die pflegebedürftige Person auch so übermäßig behütet werden, dass sie sich selbst nichts mehr zutraut (erlernte Hilflosigkeit).
Die pflegebedürftige Person selbst kann ihrerseits überhöhte Erwartungen an die pflegende Person richten. Das kann wiederum dazu führen, dass emotionale oder körperliche Grenzen der pflegenden Person nicht respektiert werden.
Beziehungsverlust bei einer Demenzerkrankung
Der Verfall der geistigen Kräfte durch Demenzerkrankungen wie etwa der Alzheimer-Erkrankung ist für alle Beteiligten belastend und schmerzhaft. Wenn sich die Persönlichkeit krankheitsbedingt verändert, können sich auch Beziehungen und Bindungen verändern. Fühlt sich die pflegebedürftige Person aufgrund des nachlassenden Gedächtnisses zunehmend fremd, ist der Austausch über Erwartungen kaum noch möglich. Für die pflegende Person ist es wichtig, dann auch über den Verlust der Beziehung trauern zu können. Gespräche mit anderen Familienmitgliedern oder Freunden können dabei helfen.
Mehr über die Pflege von Menschen mit Demenz erfahren Sie in unserem Artikel zum Thema. Dort können Sie sich auch zu Beratungs- und Entlastungsmöglichkeiten informieren.
Minderjährige Kinder übernehmen Pflegeverantwortung
Werden die Eltern pflegebedürftig, sind viele minderjährige Kinder und junge Erwachsene mit dieser Situation überfordert. Scham und Angst können dazu führen, dass trotz Überforderung keine Unterstützung von außen angenommen wird. Gerade im Kindes- und Jugendalter ist es jedoch wichtig, einer Überlastung und sozialer Isolation durch Beratung und Unterstützung von außen vorzubeugen. Insbesondere jüngeren Kindern kann es schwerfallen, ihre Belastungen überhaupt zu erkennen und zu beschreiben.
Psychische Belastung der Pflegeperson
Das Wohlbefinden und die Gesundheit der pflegenden Person ist auf verschiedenen Ebenen gefährdet. Die körperliche Anstrengung stellt eine anhaltende Belastung dar, insbesondere für ältere Pflegende. Hinzu kommen Stress und emotionale Überlastung, wenn man sich mit belastenden Themen auseinandersetzen muss.
Besonders herausfordernd kann es zum Beispiel sein, wenn eine pflegebedürftige Person:
- krankheitsbedingte Schmerzen hat
- es nicht mehr gut schafft, auf die Bedürfnisse der pflegenden Person Rücksicht zu nehmen
- Gedanken an Selbstmord ausspricht
Wichtig zu wissen: Nehmen Sie das Thema Selbstmord ernst und zögern Sie nicht, professionelle Hilfe hinzuzuziehen. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr erreichbar:
Tel. 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222
Der Hilfefinder der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention kann bei der Suche nach einem passenden Angebot unterstützen.
Für alle Beteiligten kann die Auseinandersetzung mit dem Lebensende eine enorme emotionale Aufgabe darstellen. Es kommt vor, dass eine veränderte Rolle im Erwachsenenalter auch vorbestehende Konflikte an die Oberfläche bringt, die lange verdrängt wurden. Ungelöste Konflikte und nicht bearbeitete Lebensthemen können die Auseinandersetzung mit dem Lebensende zusätzlich erschweren.
Kann man Erwartungen aus der Familie oder die eigenen Erwartungen an sich selbst nicht erfüllen, ist das in der Regel sehr belastend. Im Angesicht von bevorstehenden Verlusten können häufig auch starke Gefühle als Trauer-Reaktion entstehen (Pre-Loss-Syndrom).
Für pflegebedürftige Personen kann die neue Rolle mit Ängsten verbunden sein, etwa die Angst vor Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit. Werden solche angstbesetzten Themen angesprochen, können gut gemeinte Angebote leicht zu Streit führen.
Bewältigungsstrategien und Möglichkeiten zur Unterstützung finden pflegende Angehörige im Artikel Psychische und körperliche Belastung bei pflegenden Angehörigen.
Mit welchen Strategien kann man veränderten Rollen begegnen?
Der erste Schritt ist, sich über den eigenen Standpunkt klar zu werden. Dazu kann man beispielsweise fragen, aus welchen Gründen man die Pflegerolle übernehmen möchte. Fühlt man sich verpflichtet, oder empfindet man es als selbstverständlich, Angehörige zu pflegen?
Möglicherweise müssen Kompromisse eingegangen werden. Darüber sollte man sich bereits zu Beginn Klarheit verschaffen und notwendige Kompromisse anerkennen. Wenn man Zeit für die Pflege der Eltern aufwendet, kann man beispielsweise absehbar weniger Zeit mit den eigenen Kindern oder dem Partner verbringen. Hier ist es wichtig, gut auf die eigenen Grenzen zu achten, damit das eigene Familienleben nicht zu stark belastet wird.
Mit der pflegebedürftigen Person ins Gespräch über die jeweiligen Vorstellungen und Erwartungen zu kommen, ist ebenfalls eine sehr wichtige Strategie. Die eigenen Grenzen sollte man dabei von Anfang an deutlich aufzeigen. Idealerweise findet mit nahen Angehörigen bereits im Vorfeld ein Austausch zum Thema Pflegebedürftigkeit statt, bevor ein Pflegebedarf eintritt.
Fragen des Unterstützungsbedarfs sollten in einer ruhigen Atmosphäre und ohne Vorwürfe besprochen werden. Um sich an eine neue Situation zu gewöhnen, braucht es viel Geduld und Verständnis. Hilfe anzunehmen fällt oft leichter, wenn man sich bereits mit seinen Ängsten auseinandergesetzt hat und sie akzeptieren kann.
Im besten Fall erweitert sich der Blick auf die andere Person. Erkennt man den gesamten Lebensweg dieser Person respektvoll an, kann man auch leichter Verständnis für Entscheidungen und Sichtweisen des anderen entwickeln. Mitunter hilft auch die Vermittlung durch ein professionelles Beratungsangebot oder eine Person aus dem Bekanntenkreis.
Auch im Verlauf sollte man regelmäßig über individuelle Belastungen und Bedürfnisse sprechen, und Standpunkte und Erwartungen abgleichen. Um als pflegende Person mit veränderten Rollen umzugehen, kann man außerdem:
- Informationen zu Hilfsangeboten und Ansprechpartnern sammeln, um mehr Sicherheit im Umgang mit der pflegebedürftigen Person zu gewinnen
- sich mit anderen Pflegenden austauschen
- unterstützende Netzwerke aufbauen und pflegen
- rechtzeitig Unterstützung durch professionelle Pflege organisieren für Aufgaben, denen man sich nicht gewachsen fühlt
- für sich selbst sorgen
- die eigenen sozialen Kontakte pflegen
Verringern pflegende Angehörige ihre Arbeitszeit, können die damit verbundenen finanziellen Einbußen sehr belastend sein und sich auch negativ auf die Beziehung auswirken.
Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) bietet einen Überblick über die finanziellen Auswirkungen bei der Pflege von Angehörigen.
Gut zu wissen: Pflegende Angehörige können unter Umständen Leistungen der Pflegeversicherung zur sozialen Absicherung erhalten. Beispielsweise zahlt die Pflegeversicherung unter bestimmten Voraussetzungen für pflegende Angehörige Beiträge zur Rentenversicherung. Außerdem wird die Pflegezeit als Beitragszeit für die Rente angerechnet.
Mögliche positive Effekte
Die persönliche Sicht auf die Pflegeaufgabe spielt beim Umgang mit dem Rollenwechsel ebenfalls eine Rolle. Die Pflege eines Angehörigen kann von Liebe und Wertschätzung geprägt sein und als sinnstiftend und wertvoll empfunden werden. Durch eine veränderte Rollenverteilung ergibt sich auch die Möglichkeit, Konflikte aufzuarbeiten und eine engere familiäre Bindung zu erleben. Mit Blick auf das Lebensende ist es bedeutsam, Verständnis zu entwickeln und verzeihen zu können. So lässt sich der Abschied gemeinsam gestalten.
Wie geht man mit Schamgefühlen um?
Bei der körperlichen Pflege von Angehörigen mit Pflegebedarf werden Pflegende in sehr vertrauliche und intime Lebensbereiche eingebunden. Wenn man mit Nacktheit oder Inkontinenz konfrontiert ist, können Schamgefühle auf beiden Seiten ausgelöst werden. Auch das Unvermögen, bestimmte Dinge zu tun oder zu wissen, kann schambehaftet sein.
Grundsätzlich sind Schamgefühle sinnvoll und nützlich. Sie helfen dabei, bestimmte gesellschaftliche Regeln einzuhalten und Grenzen aufzuzeigen. Starke Scham- und Schuldgefühle können aber zu einem sozialen Rückzug und zur Vereinsamung führen. Darum ist es wichtig, einen guten Umgang mit schambehafteten Situationen zu finden.
Folgende Schritte können beiden Seiten beim Umgang mit schambehafteten Situationen helfen:
- Alle Beteiligten müssen sich zunächst ihrer eigenen Grenzen bewusst werden.
- Anschließend sollte man offen und einfühlsam darüber sprechen, mit welchen Situationen man sich persönlich wohl oder unwohl fühlt.
- Dabei kann es hilfreich sein, sich gedanklich in die andere Person hineinzuversetzen und zu überlegen, was sie oder er sich in dieser Situation wünschen könnte.
- Man sollte auf einfühlsame Weise herausfinden, was die andere Person sich wünscht und gegebenenfalls auch Vorschläge machen.
- In einigen Bereichen kann auch professionelle Unterstützung von außen hilfreich sein.
Das Zentrum für Qualität in der Pflege hat in einem Ratgeber Praxistipps zum Umgang mit Schamgefühlen zusammengestellt.
Wissenswertes
Es gibt verschiedene Anlaufstellen, bei denen man sich zu Pflegethemen beraten und schulen lassen kann. Erste Anlaufstelle ist in der Regel die zuständige Pflegeversicherung. Auch Einrichtungen von Wohlfahrtverbänden, Kommunen oder Verbraucherverbände bieten Beratungen an. Praktische Schulungen werden meist von Pflegediensten, Wohlfahrtsverbänden oder Krankenhäusern angeboten.
Gut zu wissen: Pflegebedürftige Menschen haben das Recht auf eine kostenlose Pflegeberatung. Pflegende Angehörige haben das Recht, sich kostenlos schulen zu lassen.
Ausführliche Informationen zu diesem Thema finden Sie in unseren Artikeln Pflege: Unterstützung durch Beratung und Schulung und Pflegewissen für Angehörige.
In einigen Bundesländern wurden von den Kranken- und Pflegekassen Pflegestützpunkte eingerichtet. Sie bieten Hilfesuchenden Beratung und Unterstützung. Die Stiftung ZQP stellt auf ihrer Webseite ein Verzeichnis aller Pflegestützpunkte in Deutschland bereit.
Für privat Versicherte ist die compass private pflegeberatung GmbH ein möglicher Ansprechpartner.
Die Nationalen Kontakt- und Informationsstelle für Selbsthilfe (NAKOS) bietet Informationen, wie sich pflegende Angehörige mit anderen Betroffenen vernetzen können.
Ein Verzeichnis von Wohnberatungsstellen in Deutschland und der Schweiz bietet die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungsanpassung e.V.
Das Bundesministerium für Gesundheit bietet einen Online-Ratgeber zum Thema Pflege an.
- Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG). Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 49: Kritische Lebensereignisse im Alter – Übergänge gestalten. Kap. 3.2 Der Eintritt von Pflegebedürftigkeit. 2017.
- Deutsche Rentenversicherung. Rente für Pflegepersonen: Ihr Einsatz lohnt sich. Stand 01.06.2024.
- Diakonisches Werk Berlin Stadtmitte e.V. Wenn Jugendliche sich um kranke Angehörige kümmern. Handbuch für Fachkräfte. Stand Mai 2019.
- Feichtner, A. Häusliche Pflege und die Rolle(n) der Angehörigen. In: Spannungsfeld Pflege. Herausforderungen in klinischen und außerklinischen Settings. Schaupp, W., Kröll, W. (Hrsg.). 2020.
- Stangl, W. Rolle. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik. Aufgerufen am 16.06.2025.
- Stiftung ZQP. Pflegende Angehörige in Deutschland. Aufgerufen am 16.06.2025.
- Zentrum ÜBERLEBEN gGmbH. Herausforderung Eltern-Kind-Beziehung. Aufgerufen am 16.06.2025.
Geprüft durch die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen e. V. (VZ NRW)
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